Schuld, Verantwortung und Akira Kurosawa: «Das stumme Duell»

«Das stumme Duell» sei nur eine Fussnote zu Akira Kurosawas grossartiger Karriere, schrieb der US-amerikanische Filmkritiker Vincent Canby. Damit hatte er nicht ganz unrecht – und doch kann auch in einer Fussnote Interessantes stehen.

Ein kleiner Schnitt mit grosser Wirkung. | Bild: OpenClipart-Vectors, bearbeitet durch Jan Wattenhofer

«Das stumme Duell» fechten weder Samurai noch Ronins aus. Es findet nicht im Lustwäldchen und auch nicht im Spinnwebwald statt. Das Duell dient nicht der Verteidigung einer verborgenen Festung oder der Bekämpfung von streunenden Hunden und Bösen, die gut schlafen. Es wird weder im Himmel noch in der Hölle ausgetragen. Es ist keine Shakespeare-Adaption und ebenso wenig eine Dostojewski-Verfilmung.

Was ist es dann, «Das stumme Duell»? Ein kaum beachtetes Melodrama von Akira Kurosawa, das durchaus einen Blick wert ist. 1949 erschien es, noch bevor der japanische Regisseur ausserhalb seiner Heimat Anerkennung fand. Bevor sein «Rashomon» zwei Jahre später als erster japanischer Film den Goldenen Löwen in Venedig gewann und mit seiner multiperspektivischen Erzählweise Kinogeschichte schrieb. Lange bevor Kurosawa zum Meister und etwas später zur Legende erkoren wurde und zahllose westliche Filmemacher – unter anderem Steven Spielberg, George Lucas oder Sergio Leone – mit Werken wie «Die sieben Samurai» (1954), «Die verborgene Festung» (1958) sowie «Yojimbo – Der Leibwächter» (1961) massgeblich beeinflusste.

Nein, zu jenen bedeutenden Streifen zählt «Das stumme Duell» nicht. Vincent Canby, ehemaliger Filmkritiker bei der «New York Times», bezeichnete ihn gar als «Fussnote zu einer grossartigen Karriere». Keine gänzlich unpassende Beschreibung, drehte Kurosawa doch weitaus Besseres. Ungeachtet dessen hat diese filmische Umsetzung des Theaterstücks «The Abortion Doctor» von Kazuo Kikuta ihre Qualitäten.

Eine davon ist Toshirō Mifune, eine schauspielerische und charismatische Urgewalt, die hier in der Stille genauso wütet wie im Krawall seiner späteren Darstellungen. 16-mal spielte er für Kurosawa. Erstmals 1948 als Yakuza in «Engel der Verlorenen» (zugleich seine allererste Hauptrolle), letztmals 1965 als mitfühlender Doktor in «Rotbart», einem zeitlosen Plädoyer für die Menschlichkeit.

«Das stumme Duell», die zweite Zusammenarbeit zwischen den beiden, beginnt wiederum in einem Zeitabschnitt, in dem die Menschlichkeit kaum mehr zu existieren schien. Der Zweite Weltkrieg fordert Abermillionen Leben. Kyoji Fujisaki (Toshirō Mifune) versucht, einige von ihnen zu retten. Er ist Arzt und Chirurg in einem Militärlazarett, das notdürftig irgendwo in tropischen Gefilden aufgebaut wurde. Wo genau – unbekannt.

Das feuchtheisse Klima treibt den Schweiss aus den Poren. Bei jeder Operation – und es sind unzählige – steht ein Assistent an der Seite und fächert den Ärzten kühle Luft zu. Die Übermüdung hängt schwer an den Augenlidern. Operation… Operation… Operation… Wenige Minuten Ruhe. Notfall. Ein weiterer Patient namens Susumu Nakada (Kenjiro Uemura) benötigt einen Eingriff.

Kyoji unterläuft bei jener OP ein dummer Fehler: Mit dem Skalpell schneidet er sich selbst in den Finger. Aufhören zu operieren, kann er nicht. Immerhin soll der Mann auf dem Operationstisch nicht wegsterben. Der Arzt macht also weiter. Seine Schnittwunde kommt dabei unvermeidlich in Berührung mit dem Blut Susumus. Kurz darauf stellt sich heraus: Der Patient leidet an Syphilis.

In dem Moment, als Kyoji offenkundig wird, dass er nun selbst an der Infektion erkrankt ist, fabrizieren vorbeifahrende Last- und Geländewagen ein Riesengetöse, das den Gedankensturm in Kyojis Kopf auf der Tonspur wiedergibt.

Solche inszenatorischen Feinheiten – zu denen zählen auch die reizvoll komponierten Einstellungen im Operationssaal, bestehend aus klarem Vordergrund, Bildzentrum und Hintergrund – liess Akira Kurosawa jedoch in den Tropen zurück. Im Japan des Jahres 1946, wo «Das stumme Duell» zum Grossteil spielt, sind die Shots wesentlich steriler und statischer.

Filmfakten

Originaltitel: 静かなる決闘 (Shizukanaru Kettō)
Englischer Titel: The Quiet Duel
Regie: Akira Kurosawa
Drehbuch: Senkichi Taniguchi
Mit: Toshirō Mifune, Takashi Shimura, Miki Sanjō, Noriko Sengoku, Kenjiro Uemura, Chieko Nakakita, Junnosuke Miyazaki, Isamu Yamaguchi
Produktionsland: Japan
Länge: 95 Minuten
Erscheinungsjahr: 1949

Da ich keine Trailer zu «Das stumme Duell» gefunden habe, gibt’s hier eine kurze Szene aus dem Film.

Kyoji ist mittlerweile aus dem Krieg heimgekehrt und arbeitet im Spital seines Vaters Konosuke (gespielt von Takashi Shimura, der mit 21 Auftritten häufiger als jeder andere Schauspieler vor Kurosawas Kamera stand). Zwar hat sich Kyoji nicht bei einer Sexarbeiterin mit Syphilis angesteckt, dies wäre aber der erste schambehaftete Verdacht der meisten Leute.

Folglich soll niemand von seinem Leiden wissen. Weder sein alter Herr noch die Pflegekräfte des Krankenhauses und schon gar nicht seine ehemalige Geliebte Misao (Miki Sanjō). Diese versteht nicht, warum Kyoji nach seiner Rückkehr auf einmal ihre Verlobung annulliert hat, und stattet dem jungen Arzt täglich einen Besuch im Spital ab, um den Grund dafür zu erfahren.

Syphilis und Schweigen

Die sexuell übertragbare Syphilis kann langfristig verschiedene Organe wie Herz und Gehirn schädigen sowie in all ihren verschiedenen Phasen Schaden am Nervensystem anrichten. Wird die Infektionskrankheit früh erkannt, ist sie heute keine Bedrohung mehr und kann mit Antibiotika behandelt und geheilt werden.

Für Kyoji ist das überhaupt nicht beruhigend, denn er lebt nicht im Jahr 2025, sondern 1946. Zu seinem Pech konnte sich Japan erst ab 1948 flächendeckend mit Penicillin, einem der ersten verwendeten Antibiotika, versorgen, um die Syphilis und andere Infektionen erfolgreich zu behandeln.

Was bedeutet, dass er sich gegen seine Erkrankung regelmässig das giftige Medikament Salvarsan spritzen muss – eine gefährliche und vor allen Dingen zeitaufwendige Prozedur, die laut dem Film mehrere Jahre dauern kann. (In Wirklichkeit ging’s wahrscheinlich schneller: Je nachdem, welche Quelle man hinzuzieht, kann man von ein paar Wochen bis mehreren Monaten Behandlungszeit ausgehen.)

Genau deshalb will er Misao nichts von seiner Syphilis erzählen. Sie soll nicht jahrelang auf ihn warten, bis er vollständig kuriert ist, sondern ihr Glück mit einem anderen Mann finden. Das ist der Augenblick, in dem «Das stumme Duell» sein zentrales Thema einführt: Verantwortung – für das eigene Handeln und dessen Auswirkungen auf andere.

Im Fall von Misao will Kyoji nicht dafür verantwortlich sein, sie mit der Infektion angesteckt zu haben. So weit, so nachvollziehbar. Indem der junge Arzt seiner Geliebten jedoch keine Gründe für die Trennung liefert, bevormundet er Misao wie ein kleines Mädchen. Er beraubt sie der Wahl, ob sie auf ihre grosse Liebe warten oder Kyoji verlassen möchte. Und damit darf sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung ebenso wenig selbst abwägen und verantworten.

Wie Kyoji mit Misao umgeht, hat sicherlich auch mit der Stellung der Frau in der japanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit zu tun. 1946 verabschiedete Japan eine neue und immer noch gültige Verfassung, in der für Frauen das Wahlrecht und eine völlige rechtliche Gleichstellung festgeschrieben wurde. «In der Realität waren Frauen in den frühen Jahrzehnten der Nachkriegszeit aber weit davon entfernt, gleichgestellt zu sein, was vor allem für die Arbeitswelt galt», schreibt der Japanologe Hans Martin Krämer in seinem Buch «Geschichte Japans».

Vom Sexismus am Arbeitsplatz bleibt Misao verschont. Sie stammt aus reichem Hause und scheint nicht zu arbeiten. Wie sonst sollte sie die Zeit haben, Kyoji täglich im Krankenhaus zu besuchen? Dennoch schimmern in der Bevormundung ihr gegenüber und in der Erwartung, baldmöglichst zu heiraten, die ungleichen Geschlechterverhältnisse im Japan von damals durch (die sich leider bis heute nur marginal verbessert haben…).

So blasen die beiden Trübsal: Misao, weil die Ungewissheit an ihr nagt. Kyoji, weil er noch Jungfrau ist und trotzdem eine Geschlechtskrankheit aufgeschnappt hat. Oder lapidarer formuliert: Der Mann würde gerne vögeln. Und ich frage mich, ob er noch nie etwas von Kondomen gehört hat. Wobei, Achtung: Die verringern zwar das Risiko, sich mit der Syphilis anzustecken, eine Infizierung ist aber trotz Pariser möglich.

Das ist Kyoji natürlich klar… Also kein Sex für ihn, was ihn langsam in den Wahnsinn treibt. Rui (Noriko Sengoku), einer Pflegekraft in Ausbildung, schüttet er sein Herz aus und schildert ihr seine ganze Misere. Daraufhin vergisst sie den Groll, den sie gegen ihn gehegt hat. Denn sie ist ebenfalls ein Opfer der Bevormundung.

Von ihrem Liebhaber verlassen, wollte Rui ihrer ungewollten Schwangerschaft ein Ende setzen – indem sie versuchte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Doch der junge Arzt rette und engagierte sie im Spital seines Vaters. Die Ereignisse konnten sie allerdings nicht umstimmen: Das Kind will sie nicht. Dann hätte sie besser aufpassen müssen, wirft Kyoji ihr vor.

Die Frage der Verantwortung kreuzt erneut auf, diesmal in Gestalt der Schuld. Rui sei selbst schuld an der Schwangerschaft, daher müsse sie auch Verantwortung für das Kind übernehmen, so der Vorwurf. Der Partner, der im heutigen Japan bei einer Abtreibung in der Regel sein Einverständnis geben muss, wird ausgeklammert, die Schuld komplett auf die junge Pflegekraft geschoben.

Nicht Rui darf über ihren Körper und ihre Mutterrolle entscheiden, sondern Gesetze und vorherrschende Wertevorstellungen bestimmen darüber. Eine Bevormundung von Politik und Gesellschaft, die wieder auf die Stellung der Frau im Japan der Nachkriegszeit verweist.

Tödliche Überbleibsel

Wenn wir «Das stumme Duell» also genauer betrachten, können wir einen Text schreiben, der den Umfang einer Fussnote locker sprengt. Zumal der Film das Thema Verantwortung bis hierhin noch nicht abgehakt hat. Auftritt: Susumu Nakada – jener Patient, der Kyoji mit der Syphilis angesteckt hat.

Als unser junger Doktor beim örtlichen Polizeiposten vorbeigeht, um einen verwundeten Beamten zu verarzten, trifft er dort Susumu. Die beiden gehen einen trinken und Kyoji fragt bei der Gelegenheit nach, wie es um Susumus Krankheit steht und ob er sich hat behandeln lassen.

Es wird klar, dass er seine Infektion ignorierte und sich nicht darum scherte, ob er andere Menschen mit der Syphilis ansteckt. Ohne Kompromisse lebte er sein Leben, heiratete und erwartet nun mit seiner Frau Takiko (Chieko Nakakita) sogar ein Kind – all das also, was sich Kyoji so sehnlichst wünschte.

Genau wie Kyoji hätte sich auch Susumu einer Salvarsan-Therapie unterziehen müssen, um die Syphilis loszuwerden. | Bild: Clker-Free-Vector-Images, bearbeitet durch Jan Wattenhofer

Daraus lassen sich Parallelen bis in unsere Zeit ziehen: Wenn wir nur an die Coronapandemie zurückdenken, als die meisten von uns zum Schutz anderer Abstandsregelungen einhielten und sich zu Hause isolierten, während einige – auch gewisse Politiker:innen – auf die Beschränkungen pfiffen und fröhlich Partys feierten.

Akira Kurosawa schuf mit «Das stumme Duell» eine Aufforderung, im Sinne eines harmonischen Zusammenlebens verantwortlich zu handeln.

Zudem bietet der Film eine zusätzliche Interpretation an: Wie der oben erwähnte Filmkritiker Vincent Canby schrieb, schien ihm dieser Film eine stark verschleierte Parabel über die langfristigen Auswirkungen jener Art von Militarismus zu sein, die Japan in den Zweiten Weltkrieg und schliesslich in die Niederlage führte.

Die vom Krieg ins Nachkriegs-Japan eingeschleppte Syphilis, so meine weiterführende Deutung, könnte demnach als ein Überbleibsel der totalitären und kaisertreuen Ideologien begriffen werden, die derart viele Tote forderten.

Wer sich mit diesen Überbleibseln der Vergangenheit auseinandersetzt, verkompliziert das eigene Dasein, gefährdet jedoch keine weiteren Leben. Das sehen wir bei Kyoji, wenn er seine Infektion behandelt und emotional wie körperlich einiges einstecken muss, dafür aber die Gesundheit seiner Mitmenschen nicht aufs Spiel setzt.

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die wie gewohnt und gelernt weitermachen, ohne einen Gedanken an das Vergangene zu vergeuden, ihr Leben geniessen, dies aber auf Kosten anderer und mit teils schwerwiegenden Folgen. Susumu ignoriert seine Krankheit, schreitet gedankenlos voran in seiner Existenz, wie es ihm gerade beliebt, und verletzt dabei andere.

Schwangere Frauen können die Syphilis auf ihr Kind übertragen. Die Gefahr einer Früh- oder Totgeburt steigt dadurch enorm an. Ohne Behandlung kommt das Neugeborene mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 bis 40 Prozent tot zur Welt. Folgen die Susumus Frau eventuell tragen müsste, einzig, weil ihr Mann gleichgültig handelte.

Die Geschichte endet hoffungsvoll, wenn auch nicht so erinnerungswürdig wie andere Filme Kurosawas. Kyoji schöpft neue Kraft, in der Gewissheit, dass seine Krankheit irgendwann geheilt wird.

Und Akira Kurosawa tat es seinem Protagonisten gleich, nach seinem stummen Duell erstarkte auch er. So kamen sie dann, die Samurai und Ronins, die durch Lustwäldchen und Spinnwebwald schritten und eine verborgene Festung fanden. Jäh preschten sie vor, die streunenden Hunde auf der Suche nach den Bösen, die gut schliefen und gefangen waren zwischen Himmel und Hölle. Da erstrahlten sie nun die Kinosäle, diese Shakespeare-Adaptionen und Dostojewski-Verfilmungen, und stiegen auf in den Olymp der Filmkunst.

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