
Ich gestehe gleich zu Beginn dieses Texts: Das Kino von Yasujirō Ozu, einem der bedeutendsten und einflussreichsten japanischen Filmemacher überhaupt, ist mir noch sehr fremd. Von seinen 54 Regiearbeiten, 17 davon sind für immer verloren, habe ich nur vier gesehen, von denen wiederum drei keinen grossen Stellenwert in Ozus Gesamtwerk haben.
In meinem Regal warten aber schon ein paar bedeutsamere Ozu-Filme auf ihre erste Sichtung. Unter anderem «Die Reise nach Tokyo» (1953), sein vielleicht bekanntestes und – glaubt man all den Bestenlisten und Kritiker:innen – bestes Werk. Bevor ich mich traue, nur eine Zeile über diesen Film zu schreiben, will ich zuerst einen anderen, 20 Jahre früher erschienenen und bloss 47 Minuten langen Streifen mit einem ähnlichen Titel kritisch begutachten.
Der Stummfilm «Eine Frau von Tokyo» erzählt die Geschichte der jungen Frau Chikako (Yoshiko Okada) und ihres Bruders Ryoichi (Ureo Egawa), die gemeinsam in einer kleinen Wohnung in Japans Hauptstadt leben. Ryoichi studiert, und Chikako tut alles, damit er sich auf die Uni konzentrieren kann. Sie schmeisst den Haushalt, tippt sich tagsüber im Grossraumbüro an der Schreibmaschine die Finger wund und hilft abends einem Professor aus, um noch ein paar Yen dazuzuverdienen.
Filmfakten
Originaltitel: 東京の女 (Tōkyō no onna)
Englischer Titel: Woman of Tokyo
Regie: Yasujirō Ozu
Drehbuch: Kōgo Noda, Tadao Ikeda
Mit: Yoshiko Okada, Ureo Egawa, Kinuyo Tanaka, Shinyo Nara, Chishū Ryū
Produktionsland: Japan
Länge: 47 Minuten
Erscheinungsjahr: 1933
Das Geld ist knapp, das Leben hart. Als Ryoichi von seiner Freundin Harue (Kinuyo Tanaka) erfährt, dass seine Schwester nicht jeden Abend für einen Professor, sondern in einem Hostess-Club arbeitet und sogar für Geld mit Männern schläft, kommt es zum Bruch mit Chikako.
Dass sich Yasujirō Ozu Anfang der 1930er-Jahre einem derart ernsten Stoff zuwandte, war nicht selbstverständlich. Laut Kritiker und Autor Anthony Nield hatte sich Ozu zuvor einen Namen mit Komödien gemacht. Schauplatz jener Filme war meist ein College, erzählt wurde von Jugendromanzen und faulen Student:innen, mit Slapstick brachte der Regisseur das Publikum zum Lachen.1
Ein Student spielt auch in «Eine Frau von Tokyo» eine wichtige Rolle – nur zum Lachen ist hier gar nichts mehr.
Ein erbärmliches Würstchen
Anstatt ein weiteres Lustspiel zu inszenieren, beleuchtete Ozu nun soziale Probleme der japanischen Gesellschaft in einem Melodrama. Er beschäftigte sich insbesondere mit der damaligen Stellung der Frau (wie der Titel bereits andeutet). Dass Chikako ihre gesamte Zeit hingibt, um Ryoichi das Studium zu ermöglichen, veranschaulicht, wie ungleich die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern waren.
Und doch: Laut Japanologe Hans Martin Krämer fand nach dem Ersten Weltkrieg ein Bildungsboom in Japan statt, während dem sich Frauen vermehrt in eigens für sie eingerichteten Sekundar- und Hochschulen weiterbildeten. Allerdings wurden die Universitäten für Frauen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht anerkannt.2
Die bessere Ausbildung führte dazu, dass Frauen sich neue Jobs, zum Beispiel als Telefonistin, Strassenbahnschaffnerin, Lehrerin oder in medizinischen Berufen, ergattern konnten. Das ermöglichte vielen ein selbstständiges Leben, ohne in Abhängigkeit eines Ehemannes stehen zu müssen.2
Bei Chikako und Ryoichi ist die Situation genau umgekehrt: Er ist abhängig von ihr, was Yasujirō Ozu in einer der ersten Szenen vermittelte, wenn Chikako ihrem Bruder sowohl den Betrag für seine Semestergebühren als auch ein Sackgeld übergibt. Die Eigenständigkeit, die sich viele Frauen damals erarbeiteten, wäre auch für Chikako erreichbar, wenn sie keine Geschwister hätte.
Die gesellschaftlichen Normen zu jener Zeit würden ihr jedoch auferlegen, alles Erdenkliche zu tun, damit sich ihr Bruder ungestört seiner Bildung widmen kann, schreibt Anthony Nield.1 Dass Chikako sich dafür gezwungen fühlt, der Sexarbeit nachzugehen, ist aufrüttelnd. Viel erschütternder ist, wie Ryoichi und dessen Freundin Harue mit dem Wissen um ihre Nebentätigkeit umgehen.

Ryoichi will die Motive für das Handeln seiner Schwester partout nicht verstehen (obwohl sie offensichtlicher kaum sein könnten). Er ist einzig um sein Ansehen besorgt. Sollte jemand von Chikakos nächtlichen Aktivitäten erfahren, würde er sein Gesicht verlieren. Deswegen empfindet Harue Mitleid mit ihm – nicht mit Chikako, die sich prostituiert, um genug Kohle ranzuschaffen, damit Ryoichi weiterbüffeln kann.
Wir sehen glasklar, dass Chikako die Leidtragende ist, niedergemacht von gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen. Dennoch erklärt Harue Ryoichi zum Geschädigten in dieser Geschichte, wodurch erkennbar wird, wie tief sie die ungleichen Geschlechterverhältnisse verinnerlicht hat. Sie nimmt die hier stattfindende Opferumkehr erst gar nicht als solche wahr.
Es ist absurd, und Yasujirō Ozu war sich dessen bewusst. Mit «Eine Frau von Tokyo» kritisierte er die Geringschätzung der Frauen. Ozu stellte Ryoichi als verständnislosen, egoistischen und undankbaren Trottel dar, der aus Angst vor einem Gesichtsverlust zum erbärmlichen Würstchen wird. Nicht umsonst nennt Chikako ihren Bruder einen «Schwächling».
Stillleben auf Zelluloid
Obwohl das 47-minütige Melodrama inhaltlich viel bietet, wirkt Ozus Inszenierung zunächst unscheinbar – doch das täuscht. Zuallererst fällt mir auf, dass die japanische Regielegende seinen Plot kaum mit filmischen Mitteln vorantrieb. Für einen Stummfilm ist «Eine Frau von Tokyo» sehr redselig. Wenn aber niemand einen Ton aus dem Mund kriegt, müssen die Dialoge mit Zwischentiteln gezeigt werden. Heisst für uns: Lesen ist angesagt.
So eine stark dialoglastige Erzählweise nannte Alfred Hitchcock abfällig «Fotografien von redenden Leuten».3 Wobei es kurzsichtig wäre, Ozu dermassen harsch abzustrafen. In «Eine Frau von Tokyo» bewegt sich innerhalb der Einstellungen wenig – im Gegensatz dazu steht der Zeitgenosse Akira Kurosawa mit seinen langen, fliessenden Aufnahmen –, doch Ozu komponierte seine statischen Bilder mit grosser Sorgfalt.
Alltagsgegenstände wie Teekannen und Lampen ergeben auf Zelluloid gebannte Stillleben mit zwei Ebenen. Im Vordergrund steht das Objekt, in der Tiefenunschärfe wartet das Subjekt auf seine Grossaufnahme. So oder so ähnlich ist das nicht nur mir aufgefallen.
Laut Kritiker und Autor Anthony Nield ist «Eine Frau von Tokyo» Ozus erstes Werk, in dem unbelebte Objekte zum Einsatz kommen. Diese stünden als passive, aber vertraute Beobachter im Vordergrund und würden gleichzeitig als geschicktes Mittel dienen, um den Übergang von einem Ort zum anderen zu markieren, schreibt er.1

Diese Eigenheit in der Inszenierung sei der nur neuntägigen Drehzeit von «Eine Frau von Tokyo» geschuldet, die zu den ersten Schritten in Richtung Ozus unverwechselbarem visuellen Stil geführt habe.1
In der Dokumentation «Tokyo-Ga» (1985) reist der deutsche Regisseur Wim Wenders durch Japan und folgt den Spuren von Yasujirō Ozu. Dabei erklärt er in Grundzügen den charakteristischen und dogmatisch eingehaltenen Regiestil seines Idols.
Seine visuellen Ausdrucksmittel vereinfachte Ozu im Laufe seiner Karriere immer weiter, so Wenders. In seinen frühen Filmen lassen sich noch Kamerafahrten- und schwenks entdecken, die der japanische Regisseur allmählich eliminierte. Schliesslich arbeitete er nur noch mit einer fixierten Kamera, immer auf Augenhöhe einer auf dem Boden sitzenden Person platziert und stets mit einem 50mm-Objektiv bestückt. (Es gibt noch weitere Elemente, die seine Art der Inszenierung auszeichnen – davon ein andermal mehr.)
«Eine Frau von Tokyo» ist tatsächlich einer der Filme, in denen Ozu jeweils zu Anfang und am Ende eine seiner seltenen Kamerafahrten einsetzte. Diese wirken jedoch so sinnlos wie Ryoichis verzweifelte Tat im Finale dieses Melodramas, das alles in allem kein besonderes Werk ist, aber trotzdem einen erhellenden Blick auf die Anfänge von Yasujirō Ozu als Meister des Familiendramas bietet.
Verwendete Literatur für diesen Beitrag
- Booklet der DVD-Box «The Ozu Collection – Three Melodramas» des British Film Institute, Essay zu «Eine Frau von Tokyo» verfasst von Kritiker und Autor Anthony Nield
- «Geschichte Japans» von Hans Martin Krämer, Verlag C.H.Beck
- «Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?» von François Truffaut, Wilhelm Heyne Verlag
Bewertung:


Hinterlasse einen Kommentar