
Die Journalistin hinter der Kamera fragt: «Wie würdest du dich in drei Worten beschreiben?» – «Äh… deprimiert… wütend und gelangweilt», antwortet Shy (Jay Lycurgo). Er ist 17, lebt und lernt in Stanton Wood, einer Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Wäre er nicht hier gelandet, sässe er hinter britischen Gardinen. Tagtäglich knorzt er sich durch den Schulunterricht, durch Therapiesitzungen, durch Streitereien.
Deprimiert, wütend und gelangweilt ist nicht nur Shy. Auf alle Jungs in Stanton Wood treffen diese drei Adjektive zu. Nicht viele sind dort einquartiert. Acht oder neun vielleicht. Ihr Kummer und ihr Zorn verleitet sie dazu, ein Chaos für 100 anzurichten.
Beim Zusehen, wie die Teenager ihren Scheisshaufen immer höher bauen, bin ich selbst wütend geworden. Ihr kindisches und hitzköpfiges Verhalten hat mich zu denken veranlasst: «Ihr seid solche Idioten…» Doch wenn in einer Welt, in der Tickets für Chancengleichheit verteilt werden, diese aber nirgendwo eingelöst werden können, lediglich die Perspektivlosigkeit wartet, ist es kein Wunder, kochen da die Aggressionen hoch.
Nein, diese Jungs sind keine Idioten – auch wenn sie sich teilweise wie solche verhalten –, sondern die interessantesten Akteure in einem Netflix-Film, der es vorzieht, sich auf eine schablonenhafte Hauptfigur zu fokussieren.
Filmfakten
Regie: Tim Mielants
Drehbuch: Max Porter
Mit: Cillian Murphy, Tracey Ullman, Jay Lycurgo, Little Simz, Emily Watson, Roger Allam
Produktionsland: Irland, Vereinigtes Königreich
Länge: 92 Minuten
Auf Netflix gestartet: 3. Oktober 2025
«Steve», der Name des Films und des Protagonisten, leitet Stanton Wood und unterrichtet dort. 1996 begleiten wir ihn durch seinen Arbeitsalltag. Wobei die nächsten 24 Stunden alles andere als alltäglich sind. Nicht nur kommt ein Fernsehteam zu Besuch, das eine Dokumentation über die Besserungsanstalt drehen will, auch der Parlamentarier Sir Hugh Montague Powell kommt vorbei, um den «lads» ins Gewissen zu reden (und sie davon zu überzeugen, dass sie schön brav ihn wählen sollen…). Und damit der Tag noch etwas strapaziöser wird, bekommt Steve mitgeteilt, dass Stanton Wood verkauft und in sechs Monaten geschlossen wird. Diskussionen ausgeschlossen, Entscheidung gefallen, Lehrerschaft und Jugendliche gearscht.
Der Schulleiter ist verständlicherweise schockiert und stinksauer. Cillian Murphy, der bei der letzten Oscarverleihung als bester Hauptdarsteller für Christopher Nolans «Oppenheimer» (2023) ausgezeichnet wurde, spielt Steve mit riesigem Einfühlungsvermögen. Die Überarbeitung, der Idealismus, die (Bring)Schuld und die väterliche Zuneigung für die Teenager, die Steve grösstenteils ausmachen, gibt der Ire in seinem Spiel differenziert wieder.
Doch so grandios Murphy in seiner Rolle ist, die Rolle selbst ist es nicht. Steve ist als Archetyp eines vom Leben gezeichneten Mannes festgelegt, der, von Schuldgefühlen geplagt, dem Alkohol und den Drogen verfallen ist. Tausendmal gesehen, tausendmal gelangweilt.
Durch ein tragisches Ereignis in seiner Vergangenheit soll der Charakter vielschichtiger werden. Wie sich dieser tragische Zwischenfall gestaltet und vor allem, dass dieser keine Bedeutung für die eigentliche Geschichte des Films hat, entlarvt diesen Teil von Steve als uninspirierte Massnahme, um eine Figur künstlich spannender zu machen.
Fiktive Schule, reales Problem: Lehrkräftemangel
Der britische Schriftsteller Max Porter hat das Skript zu «Steve» geschrieben und damit seinen eigenen Roman «Shy» für den Bildschirm adaptiert. Wie es der Name von Porters Buchvorlage durchblicken lässt, ist in dieser nicht der Schulleiter Steve, sondern der Schüler Shy Protagonist der Geschichte.
Shy ist die weitaus komplexere Figur – und damit um ein Vielfaches interessanter als Steve. Sofort ist bemerkbar, dass dem 17-Jährigen eine 128-seitige Erzählung zugrunde liegt. Shy hat eine glaubhafte Vergangenheit samt Dämonen, die ihn verfolgen und, anders als bei Steve, relevant für den Verlauf der Story sind. Shy hat Leidenschaften und Träume, ein ellenlanges Vorstrafenregister, er liebt Drum and Bass, möchte ein eigenes Musiklabel gründen, er hat eine Affinität für Naturwissenschaften, besonders für Geologie, er ist intelligent, unvernünftig, orientierungslos, einsam, liebenswert, abstossend, willkürlich.
Warum Max Porter für sein Drehbuch den abgedroschen gezeichneten Steve ins Zentrum rückt, erscheint deshalb fragwürdig. Die Erklärung: Für den Schriftsteller schien sein Buch unverfilmbar. «Beweis mir das Gegenteil, Pedro Almodóvar!», forderte Porter den spanischen Regisseur scherzhaft auf, als er «Shy» 2023 publizierte.
Die verschobene Perspektive hat zumindest den Vorteil, dass Porter gezielter auf die teilweise prekäre Situation in vielen Schulen hinweisen kann. Lehrkräftemangel und die daraus resultierende Überarbeitung stellt «Steve» genauso dar wie die Geringschätzung von Lehrpersonen, die sich in einer schlechten Bezahlung zeigt. In Stanton Wood fehlt überall das Geld, die Regierung hat ihre Unterstützung überwiegend eingestellt.
Auch in der Schweiz erscheinen mittlerweile zu Beginn jedes neuen Schuljahrs Medienbeiträge über den Lehrer:innenmangel. Die Parallelen zur Realität in unserem kleinen Alpenland sind also durchaus gegeben – nur bei Weitem nicht so brenzlig wie in der fiktiven Besserungsanstalt Stanton Wood. Laut einem Artikel des «Blick» existieren je nach Kanton markante Differenzen bei der Anzahl offener Stellen für das neue Schuljahr 2025/26.
Die Mangellage dürfte sich in naher Zukunft allerdings entschärfen: Wie das Bundesamt für Statistik (BFS) in einer Medienmitteilung schreibt, würden die Schüler:innenzahlen auf der Primarstufe bald merklich sinken. Dies aufgrund der Geburten, die sich seit 2022 stark verringert hätten. Kurzgefasst: Weniger Kinder bedeutet, dass in den nächsten Jahren auch weniger ausgebildete Lehrkräfte benötigt werden.
Etwas Kitsch gefällig?
Steve könnte die Lage in der Schweiz egaler nicht sein. Ihn beschäftigen mittlerweile zwei ganz andere Dinge. Da ist erstens das Fernsehteam im Schulhaus, das auf alles die Kamera draufhält, selbst auf Geschehnisse, die kaum relevant für die Dokumentation sein dürften. Der Begriff Privatsphäre scheint im Wortschatz der Journalist:innen ebenfalls zu fehlen. Munter watscheln sie in die Zimmer der Jungs und durchwühlen ihre Sachen.
Hier bedient Drehbuchautor Max Porter auch Klischees. In den meisten Filmen gibt es zwei Arten von Presseleuten: Entweder sind sie Idealist:innen, die im Auftrag der Wahrheit selbst den grössten Widrigkeiten trotzen, oder sensationsgeile Geschichtenjäger:innen, die für Aufmerksamkeit und Geld alles tun. Die Fernsehcrew in «Steve» gehört zu Letzteren.
Die zweite Sorge, die Steve umtreibt, ist Shy, der sich schon den ganzen Tag seltsam verhält. Neben den kaputtgesparten Bildungsinstitutionen thematisiert Max Porter die kaputtgedachten Hirne vieler Jugendlicher. Mental Health ist das Stichwort.
Für all die düsteren Zeiten, für all die dunklen Ecken in unserem Kopf, in denen wir uns – einige öfter, andere seltener – verkriechen, will «Steve» Hoffnung spenden. Das ist ein ehrenwertes Anliegen, das jedoch unter einer Wagenladung Kitsch begraben wird.
Die naive Botschaft «Gemeinsam schaffen wir alles!» greift bei einer derart komplexen Angelegenheit wie der menschlichen Psyche zu kurz. Eine subtile Erinnerung, dass das Leben bei allem Leid auch seine heiteren Momente bietet, wäre wesentlich kraftvoller und ehrlicher gewesen als eine schnulzige Gruppenumarmung, die sämtliche Probleme zu eliminieren scheint.
So verkommt «Steve» am Ende zu einem Rührstück, das weder wirklich schlecht noch wirklich gut ist. Die Geschichte hat ihre gefühlvollen Passagen, scheitert aber an der Wahl ihres Protagonisten. Die behandelten Themen sind relevant, wie diese implementiert werden, regt allerdings kaum zum Nachdenken an. Der belgische Regisseur Tim Mielants setzt bei seiner Inszenierung meist auf Handkameraaufnahmen, um Nähe und Unmittelbarkeit zu erzeugen, Klischees und Kitsch schaffen jedoch Distanz.
Über diese Netflix-Produktion kann ich mich weder aufregen noch freuen, was «Steve» zur schlimmsten Sorte Film macht: ein Streifen, der einfach in der grenzenlosen Mittelmässigkeit versauert und nicht mehr als ein Schulterzucken hervorruft.
Bewertung:


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