
Filme sind wie Träume. Sie können die Wirklichkeit niemals abbilden. Allein die Entscheidung, wo die Kamera platziert wird, verzerrt die Realität. Das gilt genauso für Dokumentationen, die uns allerhöchstens einen verfremdeten Ausschnitt der wirklichen Welt zeigen können.
Was das Traumhafte von Filmen besonders hervorhebt, ist die Montage. Jeder Schnitt streckt oder verkürzt die Zeit, jeder Schnitt schafft Verbindungen, seien es dramaturgische oder assoziative, jeder Schnitt kann uns so schnell wie ein Lidschlag an einen ganz anderen Ort bringen, und jeder Schnitt ist Teil von etwas Grösserem: dem Rhythmus eines Films.
Der Anime-Regisseur Satoshi Kon beherrschte die Montagekunst wie nur wenige. Er inszenierte vier Filme und liess in jedem einen Rhythmus entstehen, der sich anfühlt, als würde mich jemand am Handgelenk packen und durch die hübschesten und hässlichsten Ecken einer mir fremden Stadt zerren.
Das Tempo ist hoch, die Abzweigungen und Abkürzungen kann ich nie voraussehen, ich blinzle und befinde mich plötzlich in einem neuen Bezirk, unzählige Impressionen, visuell, auditiv, olfaktorisch, dann halten wir abrupt an, ich kann mich umsehen, mich orientieren, einatmen und ausatmen, bevor mich das Ziehen am Handgelenk langsam wieder in Gang bringt, und ich lasse es zu, gespannt auf das, was vor mir liegt.
Dieses Gefühl komprimierte Satoshi Kon auf die ersten acht Minuten seines vierten Spielfilms und kreierte eine der atemberaubendsten Intro-Sequenzen der jüngeren Anime-Geschichte. «Paprika» erschien 2006 und ist neben seinem Regiedebüt «Perfect Blue» (1997) – der Geschichte eines Pop-Idols, die eine Schauspielkarriere einschlägt und bald zum Opfer von Erfolgsdruck, dem Internet und einem Stalker wird – wahrscheinlich sein bekanntestes Werk.
Es ist aber nicht sein bestes. Und das, obwohl Kons Adaption des gleichnamigen Romans von Schriftsteller Yasutaka Tsutsuis visionär ist. Wenn Filme wie Träume sind, dann ist «Paprika» ein Traum im Traum. Nun könnt ihr raten, welcher britisch-amerikanische Regisseur sich davon sichtlich für einen seiner Blockbuster inspirieren liess.
Christopher Nolan, der Spicker
Bevor ich daran anknüpfe, hier zuerst noch die Handlung für diejenigen, die noch nie von Satoshi Kons «Paprika» gehört haben. Im Mittelpunkt steht Atsuko Chiba (Megumi Hayashibara), Psychiaterin und Forscherin, die mit weiteren Wissenschaftler:innen an einem neuen Gerät arbeitet: dem DC-Mini. Damit lassen sich Träume aufzeichnen, analysieren und mit ihnen interagieren. Kōsaku Tokita (Tōru Furuya), ein stark übergewichtiges und kindliches Genie, hat es zur Behandlung von psychischen Problemen entwickelt.
Filmfakten
Originaltitel: パプリカ (Papurika)
Regie: Satoshi Kon
Drehbuch: Seishi Minakami, Satoshi Kon
Mit: Megumi Hayashibara, Tōru Emori, Katsunosuke Hori, Tōru Furuya, Akio Ōtsuka, Kōichi Yamadera, Hideyuki Tanaka
Produktionsland: Japan
Länge: 90 Minuten
Erscheinungsjahr: 2006
Auf Anweisung ihres Personalchefs am Institut für Psychiatrie, Toratarō Shima (Katsunosuke Hori), nutzt Atsuko den DC-Mini illegal ausserhalb der Forschungseinrichtung, um den Polizisten Toshimi Konakawa (Akio Ōtsuka) zu behandeln und den Apparat zu testen. Dies tut sie jedoch nicht unter ihrem richtigen Namen, sondern als ihr Alter Ego Paprika.
Als drei Prototypen des DC-Minis gestohlen werden, nutzt der Dieb die Gerätschaften, um Träume zu manipulieren, und richtet gewaltigen Schaden an. Atsuko beziehungsweise Paprika muss nun herausfinden, wer hinter dem Chaos steckt.
Falls du gerade ein kleines Déjà-vu haben solltest, ist das kein Wunder. Es gibt die eine oder andere Gemeinsamkeit zwischen «Paprika» und dem vier Jahre später veröffentlichten «Inception» (2010) von Christopher Nolan. Die Plots unterscheiden sich allerdings erheblich.
«Inception» ist ein Heist-Movie, in dem zur Abwechslung nichts Wertvolles entwendet, sondern ein Gedanke ins Unterbewusstsein einer Zielperson gepflanzt werden muss. «Paprika» hingegen ist eher als Thriller angelegt. Die grundlegende Idee von Kons und Nolans Streifen ist aber dieselbe: Die Protagonist:innen dringen mittels einer neuartigen Technologie in Träume ein.
Wie stark sich der «The Dark Knight»-, «Interstellar»- und «Oppenheimer»-Regisseur von Satoshi Kons Anime anregen liess, zeigt sich insbesondere bei der Übernahme (manche bösen Zungen würden gar von Kopie sprechen) ganzer Szenen. Sowohl «Paprika» als auch «Inception» enthalten Actionsequenzen im Flur eines Hotels sowie einen Moment, in dem ein Spiegel nach einer Berührung zerbricht und dahinter eine zuvor unbekannte Umgebung enthüllt.

Dass sogar ein derart raffinierter Filmemacher wie Christopher Nolan mit seinen zeitverdrehenden und hirnverknotenden Storys gelegentlich spickt, ist beruhigend für jene Leute (aka mich), die hin und wieder an ihrer Intelligenz zweifeln. Das soll auch kein Vorwurf an Nolan sein, alle Künstler:innen sind nämlich Spicker. Wichtig ist, dass trotz gemeinsamer Elemente zweier Werke etwas entsteht, das für sich stehen kann.
Das ist ihm gelungen. «Inception» und «Paprika» weisen genug Abweichungen auf. Die zeigen sich recht offensichtlich bei der Handlung, doch ein entscheidender Unterschied besteht schon in der Machart: Der eine Film ist gedreht, der andere animiert.
Zeigen, nicht erzählen
Wenn in «Paprika» eine Parade aus lebendig gewordenen Alltagsgegenständen, Spielzeugen und Wahrzeichen durch die Strassen einer japanischen Grossstadt zieht, demonstriert Satoshi Kon, welche Kraft in der Animation liegt und welche Kreativität sich in seinem Kopf verbarg. Die Parade erinnert mehr an ein Wimmelbild, in dem Atsuko nicht Walter, sondern den Entwickler des DC-Minis aufspüren muss.
Der ist durch seine eigene Erfindung in einem Traum gefangen, den er nicht mehr von der Realität trennen kann. Fast genauso geht es uns, wenn Kon durch fliessende Überblendungen und Match-Cuts wild zwischen Wirklichkeit und Traum hin- und herspringt. Er herrscht über die Montage wie ein Dirigent über sein Orchester, aber nicht mit der Strenge wie bei seinen drei Vorgängern «Perfect Blue» (1997), «Millennium Actress» (2001) und «Tokyo Godfathers» (2003). Zwischendurch gerät «Paprika» aus dem Takt, stockt hier und da, wenn die Forschenden in dialoglastige Exposition und Tech- sowie Psychologie-Gebrabbel abschweifen.
Der Hang zur Übererklärung betrifft auch einzelne Charaktermomente. So zum Beispiel beim Polizeibeamten Toshimi Konakawa, der zu Beginn behauptet, er könne Filme nicht leiden, bis wenig später herauskommt, dass das genaue Gegenteil zutrifft.
Um die Bedeutung von Toshimis Lüge zu entschlüsseln, reicht eigentlich das, was uns Satoshi Kon zeigt, vollkommen aus. Es sind keine weiteren Worte notwendig, und trotzdem werden sie ausgesprochen. Eine Macke, die in Kons Filmografie nur in «Paprika» so negativ auffällt. Wie Alfred Hitchcock gegenüber dem Nouvelle-Vague-Begründer François Truffaut einmal sagte: «Wenn man im Kino eine Geschichte erzählt, sollte man nur den Dialog verwenden, wenn es anders nicht geht.» Vereinfacht gesagt: Show, don’t tell.
Träume im Kino
Und ein weiteres Problem hat «Paprika», das Kons andere Anime-Filme nicht haben: eine Protagonistin, die mich emotional auf Distanz hält und dabei noch langweilt. Atsuko ist kalt und rational. Ihr Alter Ego stellt ihre spontane, verspielte und leichtherzige Seite dar. Aus dieser Aufspaltung einer Person ergibt sich aber noch keine Vielschichtigkeit.

«Perfect Blue», «Millennium Actress» und «Tokyo Godfathers» stellen Figuren ins Zentrum, die mit sich und den überlappenden Realitäten, in denen sie sich bewegen, hadern. Dadurch entstehen Empathie und eine emotionale Bindung. Atsuko hadert nicht mit sich – oder vielleicht ein bisschen, wenn es um ihre Liebe zu einem Mann geht. Sie behält auch meist die Kontrolle über Wirklichkeit und Traum, sogar dann, wenn diese beginnen, miteinander zu verschmelzen.
Meisterlich konnte Satoshi Kon verschiedenste Welten – in «Paprika» sind es die Wirklichkeit, das Internet, die Vergangenheit, der Traum und der Film – in einer einzigen Geschichte vermengen, ohne das Publikum zu verwirren.
An dieser Stelle komme ich zurück zum Anfang dieses Texts: Wenn Kon die surrealen (Alb)Träume der Figuren auf Leinwänden ausspielt, setzt er die Erscheinungen in unserem Schlaf mit den Erscheinungen im dunklen Kinosaal gleich. Träume werden zu kollektiven Erfahrungen, genau wie das gemeinsame Schauen eines Films im Lichtspieltheater eine ist.
Einer von Atsukos Kollegen sagt einmal: «Träume sind so heilig, dass kein Mensch sie jemals beherrschen darf.» Wenn ich diesen Satz aufs Kino übertrage, ergibt sich folgendes: Die Filmkunst ist so heilig, dass kein Mensch sie jemals beherrschen darf.
Beide Aussagen sparen jeweils eine kleine Elite aus. In «Paprika» sind das die Vorstandsmitglieder des Psychiatrie-Instituts, die die Macht der Träume nutzen wollen, um jeden einzelnen «Fehler» des Universums zu korrigieren. In der Kinobranche sind es die Filmproduzent:innen und Aktionär:innen der Produktionsstudios, die Filme als eine Ware betrachten, um Profite zu generieren.
Sie ignorieren, dass Träume beziehungsweise Filme nicht nur die Dicke des Portemonnaies verändern können, sondern auch Menschen. Satoshi Kon schreibt der siebten Kunst eine Wirkmacht zu, die über die Leinwand oder den Bildschirm hinausgeht. Laut ihm können Wahrheiten ihren Ursprung in der Fiktion haben – und ich stimme da vollständig zu.
Für diese Liebe zum Kino, die in jedem von Kons Animes allgegenwärtig ist, die erzählerischen wie visuellen Einfälle und die Kunstfertigkeit seiner Montage schätze ich «Paprika» sehr. Der stockende Rhythmus, das unnötig erklärende Geschwafel sowie die distanzierten und kalten Figuren lassen mich dennoch zum Schluss kommen: Dieser Film ist Satoshi Kons schlechtester. Nicht weil er tatsächlich schlecht ist, sondern weil «Perfect Blue», «Millennium Actress» und «Tokyo Godfathers» eleganter inszeniert, menschlicher, berührender – oder kurzgefasst – besser sind.
Filme sind wie Träume. Das wusste Satoshi Kon. Und auch wenn «Paprika» nicht mein liebster Traum von ihm ist, so war es doch sein letzter. Am 24. August 2010 starb er im Alter von 46 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Arigato gozaimasu für deine Filme.
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