
Utah, 1898. Am hölzernen Grabkreuz ihres Ehegatten, das neben vielen anderen aus einer kniehohen Schneedecke ragt, schwört Pauline (Vonetta McGee) Rache.
Vor einem Tag erschoss ein Kopfgeldjäger namens Loco (Klaus Kinski) ihren Geliebten. Zuvor war eine Prämie von tausend Dollar auf ihn ausgesetzt worden. Sie solle seine Leiche nicht begraben, befahl der Mistkerl Pauline, er werde bald wiederkommen, um den Toten abzuholen. Während die junge Afroamerikanerin um ihren Lebensgefährten weinte, echauffierte sich Loco beim Davonreiten, gut hörbar für sie, über diese Welt: «Ein Schwarzer ist doppelt so viel wert wie ein Weisser!»
Gerechtigkeit will sie nun. Den Tod des «Verrückten» wünscht sie sich brennend. Eigenhändig kann sie ihn nicht umbringen. Ein anderer könnte ihn töten. Ein Mann, dessen Ruf selbst in die abgelegensten Winkel von Utah vordringt.
«Er wird Silence genannt, weil ihn das Schweigen des Todes begleitet. Denn er ist Richter und Henker zugleich.»
Pauline die Witwe
Ihn heuert sie an: den stummen Rächer Silence (Jean-Louis Trintignant), damit er Loco «das Schweigen des Todes», die grosse Stille, «Il grande silenzio» – wie es im italienischen Original heisst – bringt. «Leichen pflastern seinen Weg» heisst Sergio Corbuccis eiskalter Italowestern-Klassiker von 1968 auf Deutsch. Ein Titel, der weniger auf Silence denn auf Loco zutrifft, der überall tote Körper im Schnee vergräbt, um sie später aufzuladen, in die Stadt zu schleppen und dort das Kopfgeld einzukassieren.
Filmfakten
Originaltitel: Il grande silenzio
Englischer Titel: The Great Silence
Regie: Sergio Corbucci
Drehbuch: Mario Amendola, Bruno Corbucci, Sergio Corbucci, Vittoriano Petrilli
Mit: Jean-Louis Trintignant, Klaus Kinski, Vonetta McGee, Frank Wolff, Luigi Pistilli
Produktionsland: Italien, Frankreich
Länge: 105 Minuten
Erscheinungsjahr: 1968
Es gibt nur eine Handvoll Spaghettiwestern aus den 60er-Jahren, die an diese italienisch-französische Koproduktion herankommen. Die Epen «Zwei glorreiche Halunken» (1966) und «Spiel mir das Lied vom Tod» (1968) sind solche Streifen, denen das gelingt, ja sie überragen «Leichen pflastern seinen Weg» sogar. Der eine wie der andere entstanden unter der Regie desselben Herrn: Corbuccis Namensvetter und Landsmann Sergio Leone.
Die zwei Sergios prägten das Italowestern-Genre, das stark von japanischen Samuraifilmen wie Akira Kurosawas «Yojimbo – Der Leibwächter» (1961) inspiriert wurde, wie sonst niemand. Unbestreitbar scheint jedoch, welcher der beiden Filmemacher die grössere Bedeutung in der Kinohistorie hatte. In Quentin Tarantinos «Once Upon a Time in Hollywood» (2019) sagt der Produzent Marvin Schwarz (gespielt von Al Pacino), dass Corbucci nur der zweitbeste Regisseur von Spaghettiwestern sei.
Selbst wenn Leone die herausragendsten und popkulturell wichtigsten Wildweststreifen aus Italien drehte, der kompromissloseste geht auf die Rechnung von Corbucci. «Leichen pflastern seinen Weg» ist nicht umsonst Tarantinos Lieblings-Schneewestern, dem er mit Szenen in «Django Unchained» (2012) und insbesondere mit seinem knapp dreistündigen «The Hateful Eight» (2015) seinen Respekt zollte.
Armut, Hunger, Eigennützigkeit
In «Leichen pflastern seinen Weg» wie in «The Hateful Eight» werden zentrale Figuren – und einige tote Körper – mittels Kutsche durch wunderschön verschneite Berglandschaften chauffiert. Diese weisse Kulisse passt zur bitterkalten Geschichte von Corbuccis Film wie Cowboyhut auf Revolverhelden und hebt ihn von seinen damaligen Genrekumpanen ab, die meist in spanischen Wüstenregionen gedreht wurden. Der zweitbeste Wildwest-Sergio filmte in Cortina d’Ampezzo, dem norditalienischen Wintersportort in den Ampezzaner Dolomiten, der nächstes Jahr zum zweiten Mal nach 1956 Austragungsort der Olympischen Winterspiele sein wird.
Eingefangen von Kameramann Silvano Ippoliti in genretypischen Supertotalen und begleitet von Ennio Morricones wehmütigen Melodien kämpfen sich Mensch, Pferd und Kutsche durch die imposanten Schneepanoramen. Dann, nach längerer Fahrt, kommt der Wagen zum Stillstand, der Schlag öffnet sich, drei Passagiere steigen aus: Silence, Loco und Gideon Burnett (Frank Wolff). Letzterer wurde jüngst zum Sheriff von Snow Hill ernannt.
Das Städtchen ist geplagt von Arbeits- und Mittellosigkeit. Längst schlossen sich die ärmsten Bewohner:innen zu einer Banditenbande zusammen, die rund um Snow Hill Reisende ausraubt. «Wir stehlen nur, weil wir Hunger haben», erklärt der Anführer. Die Not machte sie zu Kriminellen, auf die hohe Prämien ausgesetzt wurden, woraufhin sich die Gegend in ein Paradies für Kopfgeldjäger verwandelte.
Auf Geheiss des kürzlich gewählten Gouverneurs soll Sheriff Burnett für Ordnung sorgen, bevor den verzweifelten Banditen eine Begnadigung gewährt werden soll. Damit verspricht sich der Politiker natürlich neue Stimmen für seine Wiederwahl, die früher oder später ansteht. Jaja, nichts geschieht hier aus purem Altruismus…
Oder vielleicht doch? Zumindest der Sheriff scheint den Banditen aufrichtig helfen zu wollen, was Loco nicht besonders gut in den Kram passt, verdient er sich an den Ärmsten der Armen doch ein goldenes Näschen.
Der Verrückte und der Gelangweilte
Ein Drecksack, ein Schweinepriester, ein Hundesohn. Das und nichts anderes ist dieser Loco. Und so charismatisch, so herrlich niederträchtig von Klaus Kinski verkörpert, dessen süffisanter, herablassender, aus stahlblauen Augen dringender Blick – festgehalten in diesen berühmten Italowestern-Close-ups – zu verstehen gibt: «Ich schnapp mir dein Kopfgeld! Tot oder lebendig? Natürlich tot! Viel einfacher! Ausserdem, was interessiert mich dein Leben? Einen Scheiss!»
Dass Kinskis Figur Loco (im italienischen Original Tigrero) heisst, scheint kein Zufall zu sein. Der deutsche Schauspieler war berüchtigt für seine Tobsuchtsanfälle, denen er gerne am Filmset freien Lauf liess. In der faszinierenden Dokumentation «Mein liebster Feind» (1999) blickt Werner Herzog auf seine fünfmalige Zusammenarbeit mit Kinski zurück und kann dem Choleriker auch liebenswerte Seiten abgewinnen. Herzog zeigt darin einen solchen Wutausbruch während der Dreharbeiten zu «Fitzcarraldo» (1981).
In dieser Aufnahme sehen wir, wie gut der Name Loco zu Kinski passt, obwohl der Darsteller weitaus schneller die Beherrschung verlor als die Figur, die er spielte. Loco behält nämlich trotz seiner Mordlust stets einen kühlen Kopf und geht mit Kalkül vor. Eine Facette, die ihn noch fesselnder macht. So sehr sogar, dass neben ihm alle verblassen – vor allem Jean-Louis Trintignants Silence. Der einzige grosse Makel des Films.
Im Gegensatz zum «Verrückten» hat der stumme Rächer ein Ideal, nach dem er strebt: Gerechtigkeit – herbeigeführt durch seine Mauser-C96-Selbstladepistole, die mit ihrer vergleichsweise hohen Feuerrate jedem Colt überlegen ist. Das Motiv, warum er durch die Lande streift und Vergeltung für diejenigen übt, die es allein nicht können, liegt tief verborgen in seiner Vergangenheit. Gleiches gilt für den Grund seiner Sprachlosigkeit. Dieser persönliche Vergeltungsdrang führt ihn wie uns zu immerhin einem kathartischen Moment, den uns «Leichen pflastern seinen Weg» eigentlich vorenthalten möchte.
Das grosse Problem an Silence liegt also nicht an der Motivation seiner Taten. Ebenso wenig an seiner Stummheit, die nur das bekannte Klischee des wortkargen Revolverhelden bis zur Absurdität überhöht. Nein, es liegt an Jean-Louis Trintignant.
Mit Engagements in Werken wie «Ein Mann und eine Frau» (1966) von Claude Lelouch, «Z» (1969) von Constantin Costa-Gavras oder «Drei Farben: Rot» (1994) von Krzysztof Kieślowski zählt der 2022 verstorbene Trintignant zu den renommiertesten französischen Schauspielern aller Zeiten. Dennoch, in seiner einzigen Rolle als Italowestern-Antiheld wirkt der Franzose eher gelangweilt, geradezu lustlos anstatt traumatisiert, rachsüchtig und abgebrüht.
Egal, ob Clint Eastwood, Lee Van Cleef, Eli Wallach, Charles Bronson – oder Franco Nero, der in Corbuccis «Django» (1966) den gleichnamigen Protagonisten spielte. Sie alle gaben ihren ambivalenten Spaghetti-Pistoleros eine verschwitzte Coolness, eine einnehmende Präsenz. Ihre Gesichter erscheinen auf der Leinwand wie aus Stein geschlagen, erodiert von harten Lebensjahren, gezeichnet von unzähligen Furchen, in denen sich in jeder einzelnen eine Geschichte verbirgt. Es sind so markante Visagen, dass der Vergleich mit Trintignants glatten Zügen fast schon unfair ist.
Gewalt und Bereicherung – vom Staat gefördert
So unterschiedlich Silence und Loco in der Figurenzeichnung und der Darstellung wirken, die beiden Kontrahenten haben zwei Gemeinsamkeiten. Die erste: Sie töten unter der schützenden Hand von Recht und Gesetz.
Loco und seine Kopfgeldjäger-Compañeros geniessen das Morden. Ohne schlechtes Gewissen knallen sie Leute ab, die sich bereits ergeben haben. Da die Behörden die Prämien ebenfalls auszahlen, wenn ihnen Leichen statt Lebende abgeliefert werden, schert sich kein Jäger darum, die Gesuchten unversehrt abzuliefern und ihnen so einen Prozess zu ermöglichen. Die Freude am Töten wird gesetzlich legitimiert – und dann noch üppig belohnt.
«Wir haben nichts getan,
Loco der Kopfgeldjäger nach einem seiner Morde
was ungesetzlich ist.»
Corbuccis «Leichen pflastern seinen Weg» äussert eine allgemeine Kritik an Rechtssystemen und Gesetzestexten, die es Menschen ermöglichen, ohne Konsequenzen andere umzubringen. Diese Kritik spart unseren Antihelden Silence nicht aus, dessen Racheakte genauso vom Gesetz gerechtfertigt werden. Denn er pustet all seine Ziele in Notwehr weg, indem er sie so lange provoziert, bis sie zuerst nach ihrem Revolver greifen.
Die zweite Gemeinsamkeit von Silence und Loco: Beide sind Kapitalisten, die sich am Elend der Armen bereichern. Arbeitsplatz- und Geldmangel zwingen viele Bewohner:innen von Snow Hill dazu, Nahrungsmittel zu stehlen, um nicht zu verhungern. Anstatt Hilfe anzubieten, erklärt sie der Staat zu Kriminellen und erlaubt, physische Gewalt gegen sie anzuwenden. Die Kopfgeldjäger, deren Taschen schon überquellen vor lauter Dollars, dürfen die Ärmsten weiter ausbeuten.
Daran beteiligt sich Silence. Von Pauline verlangt er tausend Mäuse für die Rache an Loco – dieselbe Summe, die der «Verrückte» für ihren Ehemann eingeheimst hat. Dieser fand keine Arbeit, verdiente deswegen kein Geld, musste darum Essen stehlen, wodurch er als Verbrecher gebrandmarkt und eine hohe Prämie auf ihn ausgesetzt wurde, weshalb wiederum Loco ihn über den Haufen schoss und schliesslich Silence den Vergeltungsauftrag von Pauline erhielt. Der stumme Rächer ist also auch Teil und gleichzeitig letztes Glied eines Ausbeutungssystems, das staatlich begünstigt wird. Folglich wären Silence, Loco und alle weiteren Kopfgeldjäger arbeitslos, ohne die Not der Armen. Aufs Einfachste runtergebrochen:
«Wer satt ist, der wird nicht stehlen.»
Sheriff Gideon Burnett
In «Leichen pflastern seinen Weg» sehen wir einen maroden Sozialstaat, der die Reichen bevorteilt, während die Mittellosen leiden. Die Weltsicht, die Corbucci mit diesem Film vertrat, ist geprägt von Pessimismus und scharfer Kritik am Kapitalismus. Das Finale betont dies mit erschütternder Vehemenz und Gnadenlosigkeit, weshalb es nicht umsonst auf alle Ewigkeit im kollektiven Filmgedächtnis verweilen wird. Am Ende fühlen wir uns ähnlich machtlos wie die hungernde und gejagte Bevölkerung von Snow Hill.
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