«Ne Zha 2» ist zurecht zum chinesischen Box-Office-Rekordbrecher geworden

Wie bitte? Könntest du das wiederholen? Dämonenkugel? Chaos-Perle? Der Einstieg in «Ne Zha 2» fällt nicht leicht. Da wirft einem der chinesische Regisseur und Drehbuchautor Yang Yu, auch bekannt unter seinem Künstlernamen Jiaozi, gleich eine Wagenladung an Vorgeschichte und Mythologie entgegen. Die pure Überforderung. Besonders für alle, die weder mit chinesischen Sagen und Legen vertraut sind (so wie ich) noch den Vorgänger kennen (so wie ich). Und das dürfte hierzulande die meisten betreffen.

Der erste Teil von 2019 lief nämlich nie in den Schweizer Kinos und ist zurzeit nirgendwo im Streaming verfügbar. Dass einem eine Menge Vorwissen fehlt, ist jedoch schnell egal. Denn was nach den ersten Minuten voller überfordernder Exposition folgt, ist ein monumentales Spektakel, das in diesem Jahr kein anderer Blockbuster übertreffen wird.

Rund um die Stadt am Chentang-Pass werden mithilfe einer Drachenklaue magische Portale aufgerissen, aus denen wie bei einem Wasserfall Lava herausströmt. Aus denselben Portalen stürmen Monster in Gestalt von Meerestieren, bewaffnet mit Schwertern, Keulen und Hellebarden. Eine Schlacht entbrennt. Riesenschildkröten zermalmen mit ihrem Körpergewicht die Kriegsschiffe der Menschen. Drachen speien Feuerstrahlen, so brennend heiss wie die Sonne selbst.

Filmfakten

Originaltitel: Nézhā zhī Mótóng nào hǎi (Der Teufelsjunge Ne Zha sucht das Meer heim)
Regie: Yang Yu (Künstlername: Jiaozi)
Drehbuch: Yang Yu (Künstlername: Jiaozi)
Mit: Lü Yanting, Han Mo, Lu Qi
Produktionsland: China
Länge: 144 Minuten
Kinostart Deutschschweiz: 26. Juni 2025

Die Eltern des Dämonenkindes Ne Zha, zwei tapfere und versierte Krieger:innen, stellen sich den Kreaturen der Unterwelt. Der titelgebende Held kann bei der Verteidigung der Stadt zunächst nicht zur Hilfe eilen. Sein Körper ist gebrochen, kann jedoch durch den heiligen Lotus wiederhergestellt werden, der daraufhin verwelkt.

Furzen und für das Gute kämpfen

Ab diesem Punkt ist der Plot von «Ne Zha 2», der lose auf einem Roman aus dem 16. Jahrhundert basiert, sehr simpel: Um den Krieg mit den Dämonen zu beenden, muss Ne Zha einen Zaubertrank beschaffen. Damit soll der heilige Lotus seine Kräfte zurückerlangen, um dem Drachenprinzen Ao Bing ebenfalls einen neuen Körper zu schenken. Ne Zha muss über sich hinauswachsen, mehrere Prüfungen bestehen und zusätzlich eine Verschwörung aufdecken.

Videoempfehlung: Hier erfährst du mehr über die Mythologie hinter «Ne Zha 2»

Manche Dinge haben andere schon besser erklärt, als man es selbst könnte. Zum Beispiel die Sagen und Legenden, die «Ne Zha 2» inspiriert haben. Im Video-Essay «Ne Zha: China’s Symbol of Rebellion» des Youtube-Kanals «Accented Cinema» erfährst du alles dazu.

Zudem wird erläutert, wie sich die Figur Ne Zha über all die chinesischen Film- und Fernsehadaptionen verändert hat, welche symbolische Bedeutung sie in sich trägt und welche Story der erste «Ne Zha»-Teil erzählt. So bist du bestens vorbereitet, falls du «Ne Zha 2» noch sehen möchtest.

Die einzelnen Story-Bausteine sind bekannt und in unzähligen Büchern wie Filmen schon verbaut worden. Regisseur Yang Yu setzt seine klassische und oft vorhersehbare Heldengeschichte jedoch geschickt zusammen. Action, Gefühl, Erklärung, Witz und Twist sind in der Dramaturgie so angeordnet, dass ein spannungsreicher Rhythmus entsteht, der die 144 Minuten wie knackige eineinhalb Stunden wirken lässt.

Einzelne Momente fühlen sich aber doch zäher an, als sie sein müssten. Damit sind die Szenen gemeint, in denen «Ne Zha 2» seinen Humor ausspielt. Dieser besteht zum Grossteil aus Körperausscheidungen, die die Figuren mal genussvoll, mal widerwillig konsumieren. Oder anders formuliert: Es wird in Gesichter gefurzt, Pisse getrunken und Kotze gegessen. Kinder lachen sich tot, Erwachsene seufzen genervt.

Doch alle horchen gleichermassen auf, wenn Ne Zha für das Gute einsteht. Nun ist China nicht dafür bekannt, sehr tolerant gegenüber anderen Kulturen oder Meinungen zu sein. Dass sich eine chinesische Produktion plötzlich für die Gleichstellung verschiedener Gruppen ausspricht, überrascht. «Ne Zha 2» tut aber genau das.

Mit diesen universellen Werten können sich die meisten Leute identifizieren. Das ist sicher ein Grund, warum der Film zu einem gigantischen Hit an der Kinokasse wurde – es gibt aber noch wichtigere. (Und ja, ab jetzt wird’s etwas faktenlastiger.)

Rekord nach Rekord nach Rekord

Einer der Gründe ist der Erfolg des ersten Teils von 2019, der über 700 Millionen US-Dollar einspielte und damals zu Chinas erfolgreichstem Animationsfilm avancierte. Über die Jahre entstand eine Fangemeinde, die dem Nachfolger mit großer Vorfreude entgegenfieberte.

Am 29. Januar 2025 kam «Ne Zha 2» dann endlich in die Kinos – pünktlich zum Start des chinesischen Neujahrsfests. Einen besseren Zeitpunkt für einen Kinostart gibt es in China nicht. Wie an Weihnachten in der Schweiz kommen die Familien zum chinesischen Neujahr zusammen, um zu feiern. Diese Familientreffen nutzen die Chines:innen gerne, um sich gemeinsam einen Streifen auf der grossen Leinwand anzusehen.

In den folgenden Wochen und Monaten nach dem Release brach «Ne Zha 2» einen Rekord nach dem anderen. Mittlerweile ist er nicht nur der erfolgreichste Film des Jahres, sondern auch der umsatzstärkste Animationsfilm aller Zeiten. Laut Box Office Mojo spielte er bisher weltweit rund 1,9 Milliarden US-Dollar ein, fast den gesamten Betrag davon in China.

Diese Box-Office-Rekorde hat «Ne Zha 2» gebrochen

Mit seinem Einspielergebnis von 2,2 Milliarden US-Dollar ist «Ne Zha 2»…

…der erfolgreichste Film des Jahres 2025. Auf dem zweiten Platz befindet sich momentan die Live-Action-Umsetzung von «Lilo & Stitch», die rund eine Milliarde US-Dollar weniger eingenommen hat als der chinesische Blockbuster.

…der erfolgreichste Film in der Geschichte Chinas.

…der Film, der die höchsten Einnahmen in einem einzelnen Markt (China) eingespielt hat. Er brach den Rekord von «Star Wars: Das Erwachen der Macht» (2015), der allein in den USA rund 940 Millionen US-Dollar in die Kinokassen spülte.

…der erste Film, der in einem einzelnen Markt (China) über eine Milliarde US-Dollar Umsatz erzielt hat.

…der erste Film, der über eine Milliarde US-Dollar eingespielt hat und keine Hollywood-Produktion ist.

…der erfolgreichste nicht englischsprachige Film aller Zeiten und der erste nicht englischsprachige Film, der über zwei Milliarden US-Dollar an den Kinokassen gemacht hat.

…der erste Animationsfilm, der über zwei Milliarden US-Dollar eingespielt hat.

…der erfolgreichste Animationsfilm aller Zeiten. Zuvor hatte Pixars «Alles steht Kopf 2» aus dem letzten Jahr diesen Platz eingenommen – mit einem Einspielergebnis von rund 1,7 Milliarden US-Dollar weltweit.

…der fünfterfolgreichste Film nach Einspielergebnis aller Zeiten.

Allerdings widersprechen sich hier die Quellen etwas. Die «New York Times», das Wirtschaftsmagazin «Forbes» und die beiden Branchenblätter «The Hollywood Reporter» und «Variety» schreiben alle von einem internationalen Einspielergebnis von sogar 2,2 Milliarden US-Dollar.

Chinas Fünfjahresplan

Weitere Erklärungen für den Triumph von «Ne Zha 2» hängen sowohl mit der chinesischen Bevölkerung als auch mit der Regierung in Peking zusammen. Mit 1,4 Milliarden Menschen ist China nach Indien das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt – und demnach ein gigantischer Filmmarkt. Ausserdem sehen sich Chines:innen gerne einheimische Produktionen an, was die chinesische Regierung laut SRF-Filmredaktor Enno Reins sogar forciert.

Peking investierte in den letzten Jahren stark in die eigene Filmindustrie. 2021 initiierte die Regierung einen Fünfjahresplan zur Weiterentwicklung des chinesischen Films. In diesem seien Ziele für die heimische Filmwirtschaft formuliert worden, erklärte Reins. Unter anderem sollen mehr Kinos gebaut und jährlich zehn Blockbuster produziert werden. Hinzu kommt der Vorsatz, dass sich 55 Prozent des Kinopublikums inländische Filme ansehen sollen.

Mit dem Plan förderte Peking zudem besonders die Bereiche Animation und digitale Innovation. Dies berichtete die Tageszeitung «China Daily», die zunehmend unter staatlicher Kontrolle steht. Durch die Subventionen hätten chinesische Unternehmen in der jüngeren Vergangenheit Animationsfilme produziert, die es technisch mit den Konkurrenten aus den USA aufnehmen konnten.

Beispielhaft steht dafür «Ne Zha 2»: 80 Millionen US-Dollar Budget, fünf Jahre Entstehungszeit, über 4000 Mitarbeitende aus etwa 140 Animationsstudios beteiligten sich an der Umsetzung. Zum Vergleich: Der Vorgänger von 2019 kostete ein Viertel davon und benötigte weniger als die Hälfte der Arbeitskräfte, die nur auf 20 Animationsstudios verteilt waren.

Die Schlachten sind stellenweise so kolossal, dass sich Filmepen wie «Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs» (2003) oder der indische und sehr empfehlenswerte Actionblockbuster «RRR» (2022) vor «Ne Zha 2» verneigen.

Doch es steckt ebenfalls viel Arbeitsaufwand im Design der einzelnen Figuren. Jede hat ihre eigene Silhouette, an der man sie mit einem Blick wiedererkennt. Das hilft, die Figuren auseinanderzuhalten, und schafft Klarheit. Denn Namen wie Li Jing, Ao Guang, Taiyi Zhenren oder Wuliang sind schwer zu merken (vielleicht ist das aber nur mein persönliches Problem…).

Diese Klarheit endet nicht beim Design, sondern zeigt sich genauso im Drehbuch. Alle handelnden Personen kämpfen für ihre selbst definierten Ziele und sind charakterlich präzise festgelegt. Dennoch existiert immer Raum für Ambivalenzen. Wer zu Beginn ein Feind gewesen ist, muss dies nicht bis zum Ende des Films bleiben.

Und auch der Box-Office-Siegeszug von «Ne Zha 2» ist ambivalenter, als es zunächst scheint.

Aus Nationalstolz ins Kino

Nochmals kurz zusammengefasst: Dass der chinesische Animationsfilm zu einem derart gigantischen Kassenschlager wurde, lässt sich auf den erfolgreichen Vorgänger, den günstigen Release-Zeitraum, die hohe Bevölkerungszahl Chinas und den Fünfjahresplan der Regierung zurückführen. Es gibt aber noch einen weiteren Faktor, der berücksichtigt werden sollte.

Laut der BBC löste «Ne Zha 2» auf Social Media eine Welle des Patriotismus aus, die sich über ganz China erstreckte. Fans hätten sich den Film gleich mehrfach im Kino angesehen und alle Kritiker:innen als «bezahlte Hater» bezeichnet.

Der Nationalstolz habe sich ausserdem dadurch gezeigt, dass Marvels «Captain America: Brave New World» (2025) als Erzfeind von «Ne Zha 2» wahrgenommen wurde. «Es ist mir egal, ob ‹Ne Zha 2› in Übersee überleben kann, aber ‹Captain America 4› muss in China sterben», lautet ein Slogan, der viral ging. Ein Kino in der Provinz Sichuan habe den Superheldenfilm sogar aus dem Programm genommen, um «Ne Zha 2» zu unterstützen, schrieb die BCC weiter.

Kritische Stimmen zu «Ne Zha 2» seien teils sogar von Social-Media-Seiten gelöscht worden. Das berichtete die unabhängige Nachrichtenplattform «China Digital Times» mit Sitz im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien, die sich gegen die Zensur der chinesischen Regierung stellt.

Je mehr amerikanische Produktionen «Ne Zha 2» von der Liste der erfolgreichsten Filme aller Zeiten stosse, desto mehr werde der kulturelle Stolz der Chines:innen geschürt, wurde der Journalist Song Zhibiao im selben Artikel zitiert. Dieser Stolz auf einheimische Produkte sei jedoch nicht allein auf die Kinobranche beschränkt, sondern erstrecke sich zum Beispiel auch auf chinesische Schuh- oder Kleidermarken. «Der Patriotismus des Volkes verdrängt die Regierungspolitik als Antrieb für den Konsum», so Zhibiao.

«Ne Zha 2» sei die Bürde auferlegt worden, der Nation Ruhm zu bringen, zitierte die «China Digital Times» einen Analysten. Laut diesem vermittelt der Animations-Blockbuster dieselbe Art von Nationalstolz, die die chinesische Bevölkerung 1984 empfand, als China bei den Sommerspielen in Los Angeles seine erste olympische Goldmedaille gewann.

Wie stark der Patriotismus den Box-Office-Triumph letztendlich beeinflusste, bleibt schwer zu messen. Sicher ist: Der Erfolg ist verdient. «Ne Zha 2» besticht durch seine hohe Qualität – in der Animationstechnik, im dargebotenen Spektakel, in der Konstruktion seiner Geschichte und Figuren.

Und obwohl der Film sein Geld zu 99 Prozent in China einspielte, ist er ein Zeichen dafür, dass US-Animationsstudios wie Pixar oder Illumination mit neuer Konkurrenz rechnen müssen.

So könnte die chinesische Filmindustrie bald das Mulan-Phänomen umkehren, schrieb Wanning Sun, Professorin für Medien- und Kulturwissenschaften an der University of Technology in Sydney. «Wenn Amerika eine chinesische Geschichte erzählen kann, warum sollte China nicht auch eine westliche Geschichte erzählen können?»

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